Cover
Titel
Territoriale Grenzen als Praxis. Zur Erfindung der Grenzregion in grenzüberschreitender Kartografie


Autor(en)
Connor, Ulla
Reihe
Border Studies. Cultures, Spaces, Orders
Erschienen
Baden-Baden 2023: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Kempf, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Die Wirkmächtigkeit von Grenzen bekommen wir alle – wenn auch in radikal unterschiedlichem Maße – zu spüren, auf sie einzuwirken hingegen scheint nur in seltenen historischen Momenten für wenige mächtige Staatslenker:innen möglich. Ulla Connor tritt in ihrem Buch „Territoriale Grenzen als Praxis“ an, mit diesem Alltagsverständnis zu brechen. Sich im interdisziplinären Diskurs der Grenzforschung oder auch border studies1 verortend, leistet Connor den Beitrag, praxistheoretisch und ethnografisch das doing border in seiner Alltäglichkeit in den analytischen Blick zu rücken. Die border studies haben in den vergangenen Jahren an Dynamik gewonnen, auch in den Geschichtswissenschaften sind wichtige Beiträge entstanden.2 Das Konzept der „Grenze“ ist mit ihnen deutlich analytischer und komplexer geworden. „Grenzen“ werden in den border studies in der Regel nicht als „Linien“ konzipiert, sondern als räumlich unterschiedlich oder auch gar nicht fixierte Zonen, deren Prozesshaftigkeit betont wird: Das doing border bietet eine praxistheoretische Forschungsperspektive auf die Frage, was „Grenze“, „Grenzregion“, „Grenzziehung“ eigentlich meinen (können). Connors ethnografische Studie erweitert nun die bislang eher kleine Zahl deutschsprachiger Publikationen in der Grenzforschung. Im Zentrum der empirischen Untersuchung liegt bei Connor die kartografische Arbeit an einer europäischen Grenzregion: Der Staat, das ist hier keine Black Box absoluter Macht, sondern administrativ-bürokratische Behördenarbeit.

Gegliedert ist das Buch in zwei große Teile – einen einführenden, den Diskurs der Grenzforschung und das Potential der Praxissoziologie absteckenden Teil sowie einen zweiten Teil, der den ethnografisch bearbeiteten empirischen Fall und seine Diskussion absteckt. In einem ersten Schritt führt Connor in Kapitel 2 in den Diskurs der Grenzforschung in Bezug auf bereits existierende Hinwendungen zur Praxistheorie ein. Entscheidende Stichwortgeber seien hier der cultural turn sowie der spatial turn, die unter anderem auf Prozessorientierung, Mehrdimensionalität, die Hinwendung auf Wie-Fragen sowie den Anschluss an Kritiken der Grenze als Linie abzielen. Zu kurz kommt bislang, so Connor, jedoch eine Reflexion des Praxisbegriffs und seiner Implikationen und die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Empirie. Deshalb liefert das dritte Kapitel eine Erweiterung und Fundierung des praxissoziologischen Potentials in Hinblick auf Grenzforschung. „Relationalität, Wiederholung und Situativität“ vertiefen das Verständnis der Dynamik und Prozesshaftigkeit von Grenzen (S. 94), aus der eine grundlegende Kontingenz (und damit auch Historizität) der Bedeutung von „Grenze“ abgeleitet wird. Connor weist auf Materialität sowie Körperlichkeit und davon abgeleitet auf die Bedeutung von sowohl implizitem Wissen als auch von Sozialisationsprozessen hin. Im Zentrum der Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Empirie und Theorie sowie dem grundsätzlichen Theoriebau steht der Verweis auf die Zirkularität und die explizite Abweisung geschlossener Theoriesysteme.

Kapitel 4 arbeitet argumentativ die Hinwendung zum konkreten Fall aus. In der kartografischen Arbeit an europäischen Grenzregionen gerieten „territoriale Grenzen in die Situation“ (S. 132), da sie in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung seien: Als trennende Staatsgrenzen, die sich mitunter in der unterschiedlichen Beschaffenheit von Daten zeige, aber auch in der gemeinsam geteilten Grenze der Region, die sich über Staatsgrenzen hinweg von anderen Regionen abgrenzt. Der Feldzugang erfolgte primär durch ein sechsmonatiges Praktikum der Ethnografin in einer Behörde, die kartografisch die Arbeit an der „KOREGIO“ (anonymisiert) verantwortet. Sich selbst bezeichnet die Ethnografin im folgenden empirischen Teil in der dritten Person – oftmals als „Praktikantin“. Hingewiesen wird zudem auf eine extensive Anonymisierungsstrategie, auf die später noch einzugehen ist.

Der ethnografische Hauptteil mit seiner praxeologischen Perspektive auf eine Behörde, die „Grenze“ herstellt und mit Bedeutung auflädt, handelt in vielfacher Hinsicht von Übersetzungsarbeiten: Auf der einen Seite die in vielen Fällen chaotische, ungeordnete, dynamische Datenlage, auf der anderen Seite übersichtliche, stillgestellte Karten. Connor charakterisiert dieses Tun als Stabilisierung von Instabilität (S. 228ff.). Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen miteinander kaum vereinbare Datensätze in Einklang gebracht, kommensurabel gemacht werden müssen. Diese Probleme sind oft unmittelbare Folgen der die Grenzregion trennenden Staatsgrenzen, da in den verschiedenen Ländern zum Teil andere Daten erfasst oder dieselben Daten anders aggregiert werden. Emblematisch für diese Art von Problem und den behördlichen Umgang damit ist die Arbeit der Ethnografin an einer Karte zu britischen Personen auf dem Gebiet der KOREGIO. Dabei wird sie darauf aufmerksam, dass die Daten einer Mehrheit der untersuchten Gemeinden stets auf dem Beginn des Jahres datieren, die einer anderen Gemeinde jedoch auf einem Zeitpunkt in der Mitte eines jeden Jahres. Wie damit umgehen? Aufgetragen wird der Ethnografin, die Daten einerseits trotzdem in dieselbe Tabelle einzutragen und also miteinander zu vergleichen, andererseits aber eine weitere, zweite Tabelle als Anhang zu erstellen, die die verschiedenen Stichtage der Datenerhebung festhält und die „fortan ein Dasein im digitalen Hinterzimmer“ geführt habe (S. 224). So wird deutlich, dass ein pragmatisches, Feinheiten zur Not übergehendes Vorgehen notwendig ist, das jedoch gleichzeitig mit großem Aufwand dokumentiert und bürokratisch im Zaun gehalten werden muss. Überzeugend charakterisiert Connor diesen Prozess wie folgt: „Das Finden von Halt wird zur zentralen Aufgabe“ (S. 234), die Kartografinnen werden zu „Akteurinnen der Grenzstabilisierung“ (S. 300). Greifbar wird das in einer zitierten Passage, in der eine Kartografin Gemeindereformen als „ganz fies für uns Kartografen. Ganz, ganz fies“ beschreibt (S. 231f.), hat doch jede Änderung das Potenzial, die mühsam stabilisierten Karten zu entwerten.

Auf der Karte als Endresultat sind freilich alle Spuren solcher Unsicherheiten getilgt – ein Musterbeispiel gelungenen Black-Boxings.3 Für das Verständnis von Grenzen hat das zwei wichtige Folgen, die Connor überzeugend herausarbeitet: Erstens sind da „naturalisierende[] Effekte“, die darauf beruhen, dass Grenzen auf Karten gleichberechtigt neben höchst konkreten, materiellen Entitäten wie Flüssen oder Gebirgsketten stehen und gewissermaßen epistemologisch auf die Grenzen abfärben (S. 164). Das verdeckt die Kontingenz der Grenzen und trägt zu ihrer Selbstverständlichkeit bei. Zweitens verdeckt die Karte den hinter ihrer Genese stehenden Arbeitsaufwand sowie das zuweilen herrschende Chaos heterogener Datensätze und wird damit selbst „zum Instrument der Grenzüberschreitung, insofern sie national unterschiedliche Datensätze in einer Ordnung zu präsentieren weiß, der man ihre Unterschiede nicht mehr ansehen kann“ (S. 243).

Dieser zweite Punkt wird im Buch noch weiter gefasst: Die erstellten Karten der KOREGIO bilden diese Connor zufolge nicht bloß ab, vielmehr tragen sie maßgeblich zur Genese dieser Region und ihrer Bedeutung bei. Das basiert nicht zuletzt auf der schieren Wiederholung als Folge der diversen thematischen Karten: Wieder und wieder zeigen sie das Gebiet der KOREGIO, das auch in schematischerer Form als Symbol auf zum Beispiel Flyern auftaucht. Damit wird an einer eigenen Abgrenzung gearbeitet, in der die regionalen Grenzen dieses Gebiets gestärkt werden und eine wichtigere Rolle einnehmen als die Staatsgrenzen. Diese nämlich laufen nun als feine Linien durch die entsprechenden Karten, deren Außengrenzen jedoch gleichzeitig die Grenzen der thematischen Karte sind und die ihnen externe Gebiete zu hell-grauem Hintergrund degradieren. So plausibilisiert sich empirisch die von Connor aus der Grenzforschung aufgegriffene These, wonach „es um eine Transformierung der Funktion von territorialen Grenzen [geht], jedoch nicht um eine Abschaffung oder Invisibilisierung dieser Grenzen“ (S. 117).

Methodisch auffällig sind die radikalen Anonymisierungsstrategien: Alle Personen werden im generischen Femininum bezeichnet, nicht nur die betroffene Region, sondern auch die in empirischen Fällen behandelten Schwerpunktthemen von Karten anonymisierend verfremdet. Die Autorin macht einige der damit verbundenen Probleme explizit, wendet diese offensichtlich aus dem Feld stammenden Anforderungen dann aber gekonnt positiv, indem sie die praxistheoretische Depotenzierung des Subjekts hervorhebt (S. 147f.) und sich dagegen emphatisch Goffmans Aufruf anschließt, auf „moments and their men“ zu fokussieren.4 Das ist zwar ein gutes Argument, trotzdem stört diese extensive Anonymisierung zuweilen beim Lesen, insbesondere wenn in eine spezifische Aufgabenstellung – etwa Grenzverkehr abzubilden – eingeführt wird, versehen mit der kleinen Fußnote: „Thema geändert.“ Das erzeugt schnell ein schales Gefühl, wirft beispielsweise die Frage auf, wie nah das ursprüngliche Thema denn dem zur Anonymisierung erfundenen war. Gerade für einen ethnografischen Bericht, der für die Feinheiten von Kontexten sensibilisiert und natürlich von den jeweiligen Spezifika lebt, ist das hinderlich. Und: Wozu denn eigentlich diese ganze Geheimniskrämerei? Es scheint nahezuliegen, dass sich hier das Feld auf eine bestimmte Art und Weise mitteilt. Gerade Connors dichte Beschreibungen bezüglich der Spannung zwischen notwendiger Unschärfe und behördlicher Pedanterie deuten hier eine mögliche Interpretation an: Nicht so sehr um den Schutz der Anonymität von Subjekten geht es, sondern darum, das hinter den Ordnung und Eindeutigkeit ausstrahlenden Karten stehende Kuddelmuddel zu verbergen. Wenn beispielsweise beschrieben wird, wie die Praktikantin sich ihre erste von der Arbeit versendete E-Mail sowie die daran angefügte Signatur von ihrer Vorgesetzten absegnen lassen muss und noch jeweils Korrekturvorschläge bekommt (S. 204f.), wird deutlich, wie streng die kartografische Organisation darauf bedacht ist, ihre eigenen Grenzen zu bewachen und offenbar die Kommunikation nach außen mit strengem Misstrauen verfolgt. Die trennende Kraft nationalstaatlicher Grenzen blitzt wieder in einer Passage auf, in der die Behörde ihre Daten einem anderen Land nur gegen eine exorbitante Summe oder im Tausch gegen sensible Daten zur Verfügung stellen will (S. 207f.).

Zu den Stärken des Buchs zählt die eindrückliche, dichte Beschreibung, die analytisch geschickt mit dem zuvor aufbereiteten Diskurs der Grenzforschung verknüpft wird. Diese Diskurs-Aufbereitung in den ersten vier Kapiteln nimmt allerdings etwas viel Platz ein und liest sich ein wenig schwergängig. Die eingangs von der Praxistheorie eingeforderte Dynamisierung und Multidimensionalität wird eingelöst, der ethnografische Tauchgang in die Tiefen der bürokratischen Behörde zahlt sich aus: Versteckt hinter den feinsäuberlichen Karten, hinter Behördendeutsch und Geheimniskrämerei findet sich, was Ethnograf:innen eben so finden – ein ziemliches Kuddelmuddel, nur mühsam im Zaun gehalten mithilfe einer pedantischen Kraftanstrengung. So leistet „Territoriale Grenzen als Praxis“ für die kartografische Arbeit an Grenzen, was beispielsweise die frühen Laborstudien für naturwissenschaftliche Praktiken und die Wissenschaftsgeschichte gezeigt haben5: Öffnet man ethnografisch geschult Blackboxen, so kommen Komplexität und unerwartet kreative Praktiken zum Vorschein.

Karten, so zeigt Ulla Connor, müssen als dynamisch zwischen (Macht-)Interessen ausgehandelte, kontingent historisch gewachsene und aktiv stabilisierte Artefakte verstanden werden. Ein zentrales Kennzeichen erfolgreich geschaffener Karten – ihr spezifisches accomplishment6 – besteht darin, diese zugrunde liegende Dynamik und Kontingenz zu verdecken. Das stellt insbesondere die historische Grenzforschung vor die Herausforderung, diese Offenheit zu re-konstruieren. „Territoriale Grenzen als Praxis“ bietet dafür das äußerst wertvolle praxistheoretische Rüstzeug und bringt es ethnografisch gekonnt anhand des empirischen Falls der Grenzregion zur Anwendung.

Anmerkungen:
1 Dominik Gerst / Maria Klessmann / Hannes Krämer (Hrsg.), Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden-Baden 2021.
2 Vgl. zum Beispiel Levke Harders / Falko Schnicke (Hrsg.), Belonging Across Borders. Transnational Practices in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Oxford 2022; Béatrice von Hirschhausen u.a., Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken, Göttingen 2015.
3 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Aus dem Englischen von Gustav Roßler, 7. Aufl. Frankfurt am Main 2022.
4 Erving Goffman, Interaction Ritual. Essays on face-to-face-behavior, New York 1967, S. 9.
5 Bruno Latour, Science in Action. How to follow scientists and engineers through society, Cambridge 2015.
6 Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984.

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